Ich sehe was, was Du nicht siehst

Es gab eigentlich nie Anzeichen von Wahnsinn. Wir entsprachen in allem dem normalen Dreiklang des Lebens: Verliebt, verlobt, verheiratet. Mama, Papa, Kind. Und ich: Kind, Küche, Karriere. Wenn mein Mann und ich uns heute, wo nichts mehr im Dreiklang geschweige denn im Einklang ist,  sehen, frage ich mich, ob es Zeichen gab. Irgendeinen Hinweis darauf, dass wir doch nicht so normal sind, wie wir immer glaubten. Durch die Augen anderer erscheinen wir heute immer noch völlig normal. Wer nicht genau hinhört, bemerkt auch nicht, wie mein Mann plötzlich aus dem Nichts heraus anfängt zu flüstern. „Was hast Du gesagt?“, frage ich jedes Mal, obwohl ich die Antwort schon kenne: „Nichts, Liebling.“ Und dann küsst er mich auf die Stirn und schweigt. Das letzte gebliebene Ritual einer kaum mehr greifbaren Liebe.

Es gibt Tage, die teilen das Leben in ein Davor und ein Danach. Unser Tag ist der 21. August 2010. Der Tag an dem das Danach seinen Anfang hatte. Mitten im Urlaub. Mitten im sonnendurchfluteten  Frühstückssaal des Hotels. Mitten im Stimmengewirr der anderen Gäste, klappernden Tassen und Messern gegen die das Rauschen des Meeres keine Chance hatte. Als er zum ersten Mal die Frage stellte, klang sie noch völlig harmlos: „Wo ist Lea?“. Stefan stand zwischen mir und der Sonne. Vollbeladenen mit Tellern, um an unserem Tisch die kleinere Version des großen Buffets aufzubauen. Ich drehte mich zu allen Seiten, scannte den Raum nach meiner kleinen Tochter ab, während ich weiter in meinem Kaffee rührte. Da hatte Stefan die Teller bereits abgestellt, unfähig sich zu setzen. „Hast Du sie gesehen?“ Seine Stimme war für den Raum schon jetzt zu laut. Meine Augen suchten schweigend weiter. „Ob Du Sie gesehen hast?“ Ich fand es überflüssig, mich dreimal das gleiche zu fragen. „Sie wird schon irgendwo sein.“ Manchmal schäme ich mich heute ein wenig dafür. Vielleicht hätte ich ihn ernst nehmen müssen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn ich einfühlsamer gewesen wäre. Vielleicht. Die Panik in seiner Stimme hallt heute noch in meinem Kopf nach. Damals habe ich sie nicht gehört. Damals hörte ich nur den entsetzten Aufschrei einer älteren Dame, als Stefan ihr Tischtuch nach oben riss. Von einer Minute zur nächsten führte er sich wie ein Wahnsinniger auf, brüllte den Namen unserer Tochter durch den Saal, irrte ziellos umher und ließ sich auch nicht durch die alarmierten Kellner zum Stillstehen bringen. Ich selbst machte mir gar keine Sorgen um Lea. Die Scham und das Entsetzen über das Verhalten von Stefan blockierten jeden Gedanken darüber, worum es hier eigentlich zu gehen schien. „Vielleicht hebst Du Deinen Arsch auch mal an und hilfst mir“, brüllte Stefan quer durch den Saal mitten in mein Gesicht. „Verdammt noch mal! Kannst Du nicht einmal auf sie aufpassen, ohne dass was passiert?“ Da war sie wieder. Die Ohrfeige, die ich schon so häufig von ihm verpasst bekommen hatte, dass meine Wangen seit Leas Geburt zu jeder Zeit rot schimmerten. Doch dieses Mal gesellten sich zu dem Schmerz die zahllosen Augenpaare entsetzter Hotelgäste. Vielleicht war es egoistisch. Vielleicht wäre alles anderes gekommen. Vielleicht. Aber damals konnte ich nicht anders. Ich entdeckte Lea plötzlich in der hintersten Ecke des Saals. Und sagte nichts. Blieb einfach sitzen und schaute diesem kleinen Wesen zu, wie es Teelöffel hin und her schaukelte, um sie zum Klingen zu bringen. Meine süße Prinzessin, die anders als ich schon immer die Fähigkeit hatte, die Welt einfach zu verlassen, wenn sie zu groß und laut wurde. Meine wunderbare Sonne, deren Anblick meine Höhle ist, in die ich mich verkrieche, um Ruhe und Wärme zu finden. „Ich geh jetzt zur Rezeption und rufe die Polizei!“ Mit diesen Worten riss mich Stefan zurück in die kreischende Panik und Hysterie, die mittlerweile den gesamten Saal ausfüllten. „Du bleibst hier, falls…“, aber er war schon zu weit um den Rest des Satzes noch zu verstehen. Ich erhob mich und ging langsam zu Leas kleinem Versteck. „Na? Möchtest Du noch was essen?“ Ich küsste ihre Stirn. Lea schüttelte den Kopf. „Möchtest Du auf den Spielplatz gehen?“ Sie reckte mir ihre kleinen Ärmchen entgegen.
Also gingen wir auf den hoteleigenen Spielplatz. Lea um zu schaukeln und ich um darauf zu warten, dass Stefan sich beruhigen würde. Es dauerte bis er uns fand. Wie lange, kann ich heute nicht mehr sagen. Wenn sich das Leben in ein Vorher und ein Nachher teilt, ist die Zeit dazwischen schwer zu greifen. „Es tut mir so leid“, sagte er bevor er mich fest an sich drückte und meine Stirn küsste. „Ich war einfach so in Panik. Sie suchen alle nach ihr. Wir sollen hier warten und…“. „Stefan!“ Ich schaute ihn schmunzelnd an. „Es ist alles gut. Sie ist hier.“ Und als hätte ein Regisseur es inszeniert, tauchte Lea genau in diesem Moment lachend hinter einem kleinen Holzhäuschen auf und rannte auf uns zu. Mein Hand lag auf Stefans Brust und spürte sein hektisch schlagendes Herz. „Alles ist gut.“

Aber für Stefan war nichts gut. Er brach den Urlaub ab und brachte uns hierher. Wahrscheinlich weil wir es uns nicht länger leisten konnten, im Hotel zu warten. Nach Hause wollte Stefan in keinem Fall. In seinem Kopf war Lea noch immer verschwunden. Und er immer noch auf der Suche. Tag und Nacht. Anfangs dachte ich, er hätte einen Schock erlitten, dessen Symptome einfach langsam abklingen würden. Aber Stefan fand weder Ruhe noch seine Tochter.

Die Zeitspannen, in denen er unterwegs war, um nach ihr zu suchen, wurden immer länger. Seine Besuche bei uns dafür umso seltener. In den wenigen Momenten, in denen wir noch miteinander sprachen, gab es kein Wort, das nicht gebrüllt wurde. „Sieh verdammt noch mal hin! Sie ist hier! Sie liegt direkt vor Deinen Augen und schläft.“ Es gab Momente, in denen ich aufgeben wollte. Aufhören ihn davon zu überzeugen, dass seine kleine Tochter direkt vor ihm steht. Aber ich schrie weiter. Versuchte es mit Vernunft. Dass Lea und ich nicht länger in diesem winzigen Zimmer wohnen könnten. Dass der Park vorm Haus schön sei, aber eben keinen Spielplatz hätte. Dass wir endlich wieder nach Hause fahren sollten. Stefan lies sich nicht abbringen. Schüttelte immer und immer nur den Kopf und verlies uns wieder. Um zu suchen, was er einfach nur nicht sehen konnte.
Ich redete weiter, hörte nur auf zu schreien. Für Lea. Ich wollte nicht, dass sie Angst bekam. Wie hätte ich ihr erklären sollen, dass ihr Vater nicht mehr in der Lage war, sie zu sehen? Am Ende war es Stefan, der aufgab. Er war wieder einmal wochenlang unterwegs gewesen, um das Kind zu suchen, das direkt vor ihm stehen konnte, ihm seine Arme entgegen recken, ohne dass er es bemerkte, als er eines Tages auftauchte und Lea wieder sehen konnte. Er wirkte ruhig und erschöpft, nicht glücklich, aber die Angst und die Panik, die sonst Begleiter seiner Besuche waren, waren verschwunden. Und er konnte wieder sehen.

“Schau mal, wie schön Lea malt“, sagte ich bei seinem nächsten Besuch und zeigte in eine Ecke des Zimmers. „Ja, sie macht das toll“, sagte Stefan und folgte mit versonnenem Blick meinem Finger. Dass Lea sich gerade in der anderen Ecke des Zimmers den Kopf gestoßen hatte, sah er nicht. Auch ihr Schluchzen hörte er nicht. Ich nahm Lea auf meinen Schoß und streichelte ihr beruhigend das kleine Köpfchen, das das alles nicht verstehen konnte. Ich selbst konnte es ja auch nicht. Kann es bis heute nicht. Doch durch diese Lüge können Stefan und ich wieder miteinander reden, ohne dass der Graben aus stummen Worten, die so viel schwerer wiegen, als die lauten, zwischen uns liegt. Ich akzeptiere, was er zu akzeptieren scheint. Locke ihn nicht mehr auf falsche Fährten. Ich lotste ihn, wo ich nur kann, führe seine Augen in die richtige Richtung. Vielleicht glaubt Lea heute sogar, ihr Papa könne sie tatsächlich wieder sehen. Wie lange wir diese Illusion noch aufrechterhalten können… Ich weiß es nicht. Stefan wirkt normal. Zumindest für die, die nicht genau hinsehen. Sein Flüstern ist geblieben. Und jedes Mal frage ich. Und er antwortet, küsst mich auf die Stirn und drückt mich an sich. Er ist nur selten und wenn dann auch nur kurz bei uns zu Besuch. Seine Ruhe hat er nicht wieder gefunden. Seine kleine Tochter auch nicht. Ich weiß, dass er weiter sucht, weil er nicht sieht. Aber ich frage nicht. Auch nicht nach dem Grund für seine vielen langen Reisen, um aufrecht zu halten, was uns hält.
Heute ist er wieder einmal da. Wir sitzen auf der Bank im Park und beobachten Lea, wie sie einen Ball immer wieder in die Höhe wirft und versucht zu fangen. Ich bemühe mich, nicht zu lachen, obwohl ich dabei immer wieder an diesen bösen Witz von den Behinderten denken muss, die ein Eis bekommen, wenn sie es nur einmal schaffen, zu klatschen. Alles was ich sehe, spreche ich aus. „Schau mal, jetzt hätte sie es beinahe geschafft ihn zu fangen.“ Wie die Audiodeskription im Fernsehen. Für Menschen, die nicht sehen können. Und Stefan spielt das Spiel mit. Klatscht begeistert in die Hände. „Toll, meine Süße!“ Lea freut sich und gluckst in das Lachen ihres Vaters hinein. Mit einem Mal wird Stefan wieder still. Bevor das Flüstern kommt, sinkt er in Schweigen ein. Jedes Mal.

Erst dann kommen die leisen Worte, die wie kleine gesäuselte Windböen an meinem Ohr vorbei rauschen. „Was hast Du gesagt?“, frage ich, weil das so sein muss. „Nichts, Liebling“, antwortet er, weil das so sein muss, drückt mich an sich und küsst meine Stirn. Doch dieses eine Mal habe ich verstanden. Und die Worte krachen wie einstürzende Felsen in meinen Kopf. „Sie wäre heute sechs Jahre alt geworden.“

4 Gedanken zu “Ich sehe was, was Du nicht siehst

  1. Bäääm, another schönshorty! Versüßen die Bahnfahrten. Weitermachen. Apropos Dreiklang….. Äh erzähl ich dir wenn wir uns sehen.
    Hab Korrektur gelesen:
    ….führte sich er sich wie ein ….und fand dass !
    Dein Schlauberger

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